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Kraft aus der Mitte

Beim Erarbeiten des Tagesworkshops „Kraft aus der Mitte“ habe ich mich (wieder einmal) intensiv mit Moshé Feldenkrais Buch „Das starke Selbst“ beschäftigt. Seine Ideen über die Körper-Mitte waren für mich von Anfang an etwas vom Faszinierendsten an seiner Methode.

 „Die Beckengegend ist der Grundstein aller Bewegung und somit Grundlage des Lebens (…). Sie muss frei sein von Zwang und Starre, frei, sich buchstäblich nach allen Richtungen zu bewegen. (…) Sie ist es, die den Körper in jeder Handlung gleichsam abbildet“

(Moshé Feldenkrais, Das Starke Selbst, Suhrkamp 1992, S. 266/267).

Moshé Feldenkrais –war nicht nur Ingenieur und Wissenschaftler, er war auch dreißig Jahre seines Lebens ein passionierter Kampfkünstler (Jiu-Jitsu und Judo). Seine eigene Methode ist von den Prinzipien und der Weisheit fernöstlicher Bewegungskunst inspiriert und durchdrungen. Sehr knapp zusammengefasst kann man sagen, dass Judo ein Destillat von Jahrtausende altem Erfahrungswissen darüber ist, wie sich Menschen unter den denkbar schwierigsten Bedingungen so gut bewegen können wie es irgend möglich ist.

Als Ingenieur war es für Feldenkrais leicht zu erkennen, dass im Judo die Prinzipien der Mechanik in einer Weise auf den menschlichen Körper angewendet werden, welche es gestattet, sich optimal zu bewegen. Dabei spielen zwei Hauptideen eine wichtige Rolle: Die Kraftübertragung durch das Skelett und die Wichtigkeit der Körpermitte.

Bei dem Prinzip, wie sich Kraft durch das Skelett fortbewegt bildet das Skelett quasi die Eisenbahnschienen, über welche die Kraft durch den Körper reist. Jedes Mal, wenn man sich bewegt, generiert man Kräfte, die durch Knochen und Gelenke hindurch geleitet werden. Selbst wenn man sich nicht bewegt, hängt man von diesen Kräften ab. Die Schwerkraft drückt durch das Skelett hinunter in den Boden – und wenn das Skelett sich in der richtigen Stellung befindet, stößt es einen zurück nach oben. Diese Art der Kraftübertragung funktioniert auch, wenn man eine Tür öffnet, seine Schuhe auszieht oder einen Kinderwagen schiebt etc.

Aus biomechanischer Sicht handelt es sich bei der Körpermitte um die Region mit der größten Knochenmasse. Das Becken ist das Gravitationszentrum des Körpers. Wenn man sich eine Kugel mit einer Kette denkt (z.B. eine altmodische Fußschelle, die aus einer Eisenkugel bestand, an der eine Kette befestigt war), dann ist offensichtlich, dass man an der Kette herumrütteln kann soviel man will, die Kugel bewegt sich nicht. Wenn man allerdings die Kugel bewegt, dann muss sich auch die Kette bewegen! Übertragen auf den Körper entspricht die Kugel dem Becken und die Kette der Wirbelsäule.

Auch die größten Muskeln sind um das Becken herum gruppiert. Das lässt sich mit einem Seestern vergleichen: in der Mitte groß, an den Enden klein. Ebenso verhält es sich mit der Muskulatur, die kleinsten Muskeln sind an der Peripherie, die größten in der Mitte. Wenn wir uns effizient bewegen wollen, müssen die größten und stärksten Muskeln die größte Arbeit vollbringen. Die kleinen Muskeln hingegen sind dazu da, die Bewegung zu leiten und zu lenken, nicht sie zu erzeugen.

Ein anderer Aspekt der Körpermitte ist die Idee eines energetischen Zentrums, die ebenfalls aus den fernöstlichen Bewegungskünsten stammt. Dieses Zentrum befindet sich in der Region des Unterbauches, etwa drei Fingerbreit unterhalb des Bauchnabels. Es gilt als Sitz der Lebensenergie – des Qi (Chin.) oder Ki (jap.). Diese Region spielt in vielen Kulturen eine zentrale Rolle und ist unter verschiedenen Namen bekannt: Auf Japanisch heißt sie Hara oder Tanden, in der Chinesischen Medizin handelt es sich um das untere Dantian und im indischen Yoga entspricht sie in etwa dem Sakralchakra, dem zweiten der sieben Hauptchakren.

Moshé Feldenkrais ging als westlich geprägter Wissenschaftler sehr vorsichtig mit dem Begriff der Energie um. Er geht auf diesen zweiten Aspekt der Körpermitte nur indirekt ein, wenn er in einigen seiner Stunden die Anweisung gibt, alles mit der Vorstellung zu tun, das ganze Selbst sei im Bereich des unteren Bauches lokalisiert oder der Impuls zu jeglicher Handlung solle von dort ausgehen. Ihm ging es um eine potentielle Handlungsbereitschaft und Präsenz ausgehend von der unteren Bauchregion, die – wenn sie erreicht wird – ganz automatisch einen vitalen Fluss der Lebenskräfte gewährleistet.

In seinem Buch „Das starke Selbst“ betont er diesbezüglich die enorme Wichtigkeit eines „gefüllten“ Unterleibs. Wörtlich schreibt er:

 „Es gibt wahrscheinlich keinen anderen Körperteil, über den so viele Halbwahrheiten gesagt worden sind und gesagt werden wie über den Unterleib. Manche Schulen wollen ihn flach und hart wie ein Brett; ihn einzuziehen, wird von nahezu allen empfohlen. Hier scheinen die großen Judomeister einem richtigen Verständnis seiner Funktion näher zu sein als andere Schulen, und manche von ihnen beherrschen ihn vollkommen. Der schwere Inhalt der Unterleibsgegend sowie die Lungen, das Herz und die Stimmwerkzeuge hängen letztendlich an der Wirbelsäule, wie auch die Muskeln, die alles halten. Der eigentliche Inhalt des Unterleibs, d.h. alles unterhalb des Zwerchfells, wird von den Muskeln des Beckenbodens gestützt. Alle diese Muskeln müssen tonisch zusammengezogen sein, das bedeutet: Absichtliche Handlung sollte den Grad ihrer Kontraktion nicht stören. Wenn Wirbelsäule und Kopf richtig getragen werden, wird die Spannung in Beckenboden, Unterleib, Zwerchfell, Kehle und Zunge nur von deren Eigengewicht bestimmt. (…) Der untere Unterleib muss frei von absichtlichen Spannungen sein. Er ist gefüllt, gleichsam annähernd prall, d.h. man glaubt förmlich sehen zu können, wie das Gewicht der Eingeweide gegen die Bauchwand wiegt.

(Moshé Feldenkrais, Das Starke Selbst, Suhrkamp 1992, S. 249)

Das Gefüllt-Sein des unteren Bauchs, das man empfindet, wenn keine parasitären Kontraktionen vorhanden sind, bezeichnet Feldenkrais als den besten Anhaltspunkt, an dem man sich orientieren kann, um eine angemessene Haltung wieder herzustellen.

Er benutzt das Bild eines Tellerjongleurs, um eine gut ausbalancierte dynamische Haltung zu beschreiben: Das Becken trägt das Rückgrat und der Kopf sitzt oben auf, wie der Teller auf dem Ende des Bambusstabes eines chinesischen Jongleurs. Alles was sonst den Körper ausmacht hängt an der Wirbelsäule! Effektive, gut organisierte Handlungen sind nur möglich, wenn sich das Becken in all seinen Gelenken ungehindert bewegen kann und der Unterbauch frei von überflüssiger Spannung ist. Sobald eine der möglichen Beckenbewegungen eingeschränkt ist, wird der Fluss der Handlungen unterbrochen und man benötigt große Anstrengung im Schultergürtel oder in den Beinen, um das zu tun, was man mit einem beweglichen Becken leicht ausführen könnte.

 „Jede gut organisierte Handlung beginnt mit einer Bewegung des Beckenknochens, der sich so verschiebt, dass er die Wirbelsäule und den Kopf in eine neue Stellung bringt, ohne dabei die völlige Bewegungsfreiheit des Kopfes im Geringsten zu beeinträchtigen. Kontrolle über Kopf und Becken sind daher in jeder korrekten Handlung unabdingbar und keinem lässt sich der Vorrang zusprechen.“

(Moshé Feldenkrais, Das Starke Selbst, Suhrkamp 1992, S. 191)